Winterthur sous le ciel un peu provençal…
oder
Der Sprung ins Glück am Matterhorn
Erster Tag
Vor uns Richtung Süden: die Bläue der Hochsommerperiode im Juni. Im Doppelschlepp lassen sich Frieder und ich durch das Tösstal ziehen, geistig schon über dem Alpenhauptkamm: erst dort stehen die einzigen Cumuli, hoch oben in der Wärme ihrer abgeschiedenen Täler im gleissenden Mittagslicht, und ziehen uns magisch an in ihrer weiten, südlichen Atmosphäre.
Wir geniessen einen dieser heissen Hochalpentage, an denen die Thermik im Flachland erst sehr spät oder überhaupt nie losgeht. Als wir im Glarnerland klinken, finden wir nach 8 Minuten am Gufelstock 2 bis 3 Meter und können auf 3300 steigen. Das Abenteuer fühlt sich phantastisch an und die Erfüllung des alten Traumes, von Winterthur nach Vinon in der Provence zu fliegen, wird greifbar. Dieser Traum wird uns über Gletscher und Alpenmassive führen, bis wir am Abend zu einem dreiviertelstündigen Endanflug über Korn- und Lavendelfelder ansetzen werden, und vor uns sozusagen nur noch ein paar wenige Hügel bis zum nahen Meer…
Über Flims, Thusis, Tiefencastel zieht es uns vorerst ins Engadin, um noch möglichst viel Hochalpenfliegerei auszukosten, bevor wir uns am Gornergrat definitiv für die Provence entscheiden wollen. 10 km östlich Zernez wenden wir Richtung Wallis. Dort klettern wir nach einem problemlosen Flug über Oberengadin, Vorderrheintal, Oberalp, Furka zusammen mit Thomy Gmür dem berühmtesten Berg der Alpen entgegen und erreichen erstmals deutlich über 4000m.
Hier ist der Entscheid – es ist kurz nach halb fünf – eigentlich schnell gefällt: Richtung Aostatal steht die Basis ähnlich hoch wie im Wallis, weit und breit keine Überentwicklungen. Und von einem früheren Flug von Vinon ans Matterhorn und zurück weiss ich, dass bei guten Bedingungen die restlichen knapp 300 km in etwa zweieinhalb Stunden zu schaffen sind.
Zudem beurteilen wir die Chancen, morgen wieder nach Winterthur zurückzufliegen, als absolut intakt.
Dem Matterhorn, als im wahrsten Sinne des Wortes Meilenstein unseres Fluges, erweisen wir die Ehre, indem es Frieder nördlich umfliegt und ich auf der Südseite, ganz dicht an der schroffen, imposanten Felswand.
Die nun folgenden Fotos stammen alle von Frieder.
Vorläufig fliegen wir in anbetracht der noch zu überwindenden Pässe vielleicht noch etwas allzu verhalten.
Den vollständig vergletscherten Übergang vom Val de Rhêmes nach Val d’Isère überqueren wir aber aus über 3600 Metern. Und nachdem wir nach einer kleineren Übung im nordöstlichen Modane-Tal nördlich Sollières aus 2800 wieder auf über 3800 Meter steigen, macht sich die wohltuende Gewissheit breit, dass die Pässe nach Bardonecchia und via Plampinet ins Briançonnette ohne weitere Schwierigkeiten zu unseren Füssen liegen.
Da beginnt es in den Flügeln meines Fliegers und in meinem rechten Handgelenk zu vibrieren. Ein paar hundert Wettbewerbsstunden in diesem Gebiet und die vorgerückte Stunde – es ist mittlerweile sechs Uhr und noch knapp 200 km bis Vinon – lassen uns im Geradeausflug nur noch zwischen 160 und 200 km/h Richtung Süden vorfliegen. Wir nehmen lediglich noch vier sehr gute Aufwinde mit. Den Tête d’Amont lassen wir rechts liegen und fliegen direkt zum Roc de Serre Chapelle nordöstlich von St. Crépin, wo wir mit über 3 m auf 3700 Meter steigen.
Von hier nehmen wir sehr schnell Kurs auf den bekannten Chemin. Diese Phase des Fluges Richtung Vinon ist allermeistens ein reiner Hochgenuss: Man sieht, dass man auch bei hoher Geschwindigkeit in Kretenhöhe an der Dormillouse ankommen wird, nimmt pro forma im Geradeausflug noch ein wenig Steigen über dem Guillaume und dem Morgon mit, fliegt weiter sehr schnell durch leichte Abwinde über dem Lac de Serre-Ponçon hinein in den Hang der Dormillouse, wo mit Brise und Thermik ein langes Aufwindband beginnt.
Abends um viertel vor sieben an der Dormillouse: Einflug in die berühmteste Rennstrecke der Südalpen.
Und auch jetzt werden wir hier steigend zum Hang versetzt. Wir bleiben aber auf der Krete und können, ihr folgend, über eine Strecke von knapp 20 km im Geradeausflug etwa 600 Meter Höhe machen. Das Glücksgefühl ist fast nicht zu beschreiben, ein Geschenk der Topographie und der Atmosphäre an die Segelflieger. Und dies am Abend nach einem langen Alpenflug mit Start in Winterthur, es ist überwältigend!
Am Ende des höheren Chemin, südlich der Trois Evêchés, gegen sieben Uhr abends, steigen wir nochmals auf fast 3000 Meter und befinden uns damit ziemlich komfortabel im Endanflug auf Vinon. Allerdings wissen wir ja, dass um diese Zeit die Brise relativ stark gegen die Berge blasen kann, das hiesse für uns Gegenwind, und je tiefer man kommt, desto stärker. Darum fliegen wir nur etwa McCready 1 oder noch etwas langsamer. Aber der Gegenwind erweist sich als moderat und eher aus Südost, sodass die Höhe sehr gut reicht.
Das ist der Querschnitt durch den Schluss unseres Fluges mit der Steigphase im Geradeausflug an der Krete des Chemin, der letzten Thermik südlich der Trois Evêchés und dem sagenhaften Endanflug über 80 km.
Und sozusagen mit der Gletscherluft noch im Cockpit schweben wir gegen die über dem Lubéron stehende Abendsonne aus und landen um viertel vor acht. Wir öffnen das Capot, und die Gletscherluft weicht dem betörenden Duft des Thymian: wir sind in der Provence angekommen und können unser Glück über diesen Flug fast nicht fassen.
Im Abendlicht neben der Graspiste 30 in Vinon
Der Flugweg nach Vinon (SeeYou)
Schnell telefonieren wir nach Winterthur und melden unsere wohlbehaltene Landung am Ziel unserer Träume. Nach dem beinahe achtstündigen Flug erholen wir uns bewegungsmässig auf einem Spaziergang ins nahe Hotel Olivier. Kulinarisch lassen wir uns dort von der Küche von Mr. Bertand verwöhnen.
Und schon ziemlich bald begleiten uns die Zikaden und das vertraute Fluidum der nächtlichen Provence in den wohlverdienten Schlaf.
Zweiter Tag
Wir lassen die typische Ambiance eines Vinon-Morgens auf unsere Seelen wirken, stehen im Hangar am Club-Briefing, die Flugzeuge draussen neben der Piste bereit. Gespannt sind wir natürlich auf die Meteo-Vorhersagen. Die für Vinon üblichen 34° harmonieren heute ausnahmsweise mit der für die Schweiz unüblichen gleichen Temperatur. Gewitter sind zwar mehr als gestern zu erwarten, dürften aber noch nicht überhandnehmen.
Die Vorzeichen für einen erfolgreichen Rückflug nach dem 480 km entfernten Winterthur stehen gut. Die klare Bodensicht bis zur Montagne de Lure lässt Erinnerungen an herrliche Südalpenflüge wach werden.
Unsere Wartezeit im Schatten der Bäume neben der Piste 28 wird schon um viertel vor zwölf beendet durch die völlig überraschende Entwicklung der ersten Cumulusfetzen über dem Plateau von Valensole. Sofort beginnt die Suche nach den offensichtlich ebenso überraschten Schlepppiloten. Um halb eins starten Frieder und ich – dank der liebenswürdigen Gastfreundschaft in Vinon – als erste nebeneinander zu einem nur sechsminütigen Schlepp. Gleich am Südende des Plateaus finden wir sofort 2 bis 3 Meter Steigen und kommen damit sehr schnell auf 2000 m Höhe. Was für ein erlösender Anfang! Erinnerungen an sehr mühsames und tiefes Vortasten über Puimoisson bis in die ersten Hänge verblassen, und schon bald
nehmen wir mit hoher Geschwindigkeit die Einstiegskante des Coupe aufs Korn, vor uns ein Traum von klarer Atmosphäre, verziert mit hohen Cumuli weit über dem Relief...
Im Wettbewerb fliegt man normalerweise zwei Stunden später durch diese Passage und die Hangbrisen sind durchgehender organisiert als jetzt. Deshalb halten wir uns
am Ende das Coupe an die guten Einzelaufwinde, steigen hoch und verzichten auf die Fortsetzung der Hangbolzerei.
Das bewährt sich, und überhaupt fliegen wir beschwingt nach Norden, diesmal über den Lucy zum Tête d’Amont. Nach der üblichen Sucherei in gewaltige Aufwinde verheissenden Turbulenzen am Westhang steigen wir hier mit bis zu 5 m auf 4000!
Dieselbe Route, auf der wir gestern gekommen sind, führt uns zurück bis ins Aostatal. Hier springen wir aber östlich des Grand Combin direkt ins Wallis. Das Matterhorn wahrt damit seine Einzigartigkeit. Der südlich des Alpenhauptkamms liegende, italienische Weg dahin scheint uns schon etwas verhangen, wohingegen das Wallis mit unverändert starken Bedingungen und ausgezeichneter Sicht auf uns wartet.
Panoramabild
Das nördliche Berner Oberland scheint bereits überentwickelt zu sein. Was erwartet uns in unseren „eigenen“ Voralpen?
Das ist schnell erzählt: Wir haben Glück. Am Oberalp gestaltet sich die Suche nach dem erlösenden Aufwind in einer Übung von fünf Uhr bis zwanzig vor sechs sehr nervenaufreibend. Wohl infolge der hier schon blockierenden Südluft. Vielleicht auch zusätzlich als ein Effekt der Absinkbewegung neben den Ostschweizer Gewittern. Dann aber können wir endlich beide auf etwa 3300 steigen und nur massive Gewitter vermögen uns jetzt noch vom unbeschwerten Endanflug nach dem noch 95 km entfernten Winterthur abzuhalten.
Über der Schöllenen sieht es auf Kurs so aus. Aber von den Winterthurer Kollegen wissen wir, dass dort noch geflogen wird und dass sich die Gewitter im Osten befinden.
Im Osten die Gewitter, im Westen die Sonne. Dem Rückflug von Vinon nach Winterthur steht nichts mehr im Wege...
Und da landen Frieder und ich um zwanzig nach sechs, reich beschenkt durch ein gemeinsames intensives Alpenflug-Erlebnis der besonderen Art.
Seither hat für mich der Himmel über Winterthur ein wenig vom unbeschreiblichen Licht der nun viel näheren Provence...
Simon Leutenegger
Das folgende Satellitenbild illustriert, dass wir mit der Konstellation der Gewitterherde die meteorologischen Zufallsvariablen auf unserer Seite hatten.
Das NOAA Satellitenbild vom 19. Juni, ca. 17 Uhr Lokalzeit: Deutlich zu sehen sind die Überentwicklungen im Berner Oberland und vor allem über der gesamten Ostschweiz, beginnend über der Alpensüdseite. Unser ganzer Flugweg ist unbehelligt und Winterthur liegt genau am Westrand der Ostschweizer Gewitter, die beispielsweise im Toggenburg recht heftig gewesen sein sollen...